Samstag, 29. Oktober 2011

Der Matchbox-Man

1. Der außergewöhnliche Mann

Es war einmal ein Mann, der war so klein, dass er durch ein Schüsselloch passte. Sein Bett war daher nur eine gewöhnliche Streichholzschachtel, die er zum Schlafen einfach ein Stück weit aufzog und dann hinein sprang. Daher trug er auch den Beinamen Matchbox-Man (MBM).

Trotz seiner winzigen Größe verfügte der MBM über ernorme körperliche Fähigkeiten. Er war stark wie ein Bär. Seine Beine waren so schnell wie die eines jagenden Gepards. Auch war sein Blick scharf wie der eines Adlers u. sein Gehör so gut wie das einer Katze. Mit seinem kahlen Kopf konnte messerscharf denken. Nur sprechen konnte er leider nicht. Dafür beherrschte er aber die Körpersprache wie kein zweiter.

Der MBM lebte in einem bunten Schuhkarton im hinteren Winkel von Sebastians Kinderzimmer. Dort hatte er sich häuslich eingerichtet. Alles war auf einer Ebene: der Wohnbereich mit einer Kuschelecke, das Mini-Schlafzimmer mit seiner Schlaf-Schachtel und auch eine kleine Puppen-Küche gehörten dazu. Worauf der MBM besonders stolz war, war das nagelneue Matchboxauto hinter seinem Haus, das ihm Sebastian für seine treuen Dienste geschenkt hatte.

2. Sebastians erste Begegnung mit dem Supermann

Wer nun war Sebastian? Er war ein schwächliches Kind von etwa 8 Jahren mit einem großen Handicap: Er saß im Rollstuhl und das schon seit 2 Jahren, nachdem er von einem Auto angefahren worden war. Seitdem war er querschnittsgelähmt und auf fremde Hilfe angewiesen. Wer konnte ihm da besser helfen, wenn es mal nötig war, als der Supermann aus der Streichholzschachtel?

Ihr wollt jetzt sicher gerne wissen, wie Sebastian und der MBM zusammen kamen. Die Wahrheit ist, dass der MBM aus einem Katalog stammt. Ja, aus einem Spielzeugkatalog! Sebastian hatte nämlich diesen Katalog zufällig in seinen Händen, weil er aus einer Illustrierten seiner Mutter gefallen war. Er blätterte etwas gelangweilt herum und sah plötzlich diesen MBM inmitten lauter Matchbox-Autos. Sofort war er fasziniert von diesem Mini-Kraftpaket u. wünschte sich nichts sehnlicher als ihn zum Freund zu haben. Sogar nachts träumte er von dem Winzling u. einer Freundschaft mit ihm.

Und dann passierte es! Eines Tages, als Sebastian wieder einmal den Katalog in den Händen hielt, öffnete sich dieser wie von Geisterhand. Heraus schlüpfte der kleine Supermann, der sich tief vor Sebastian verneigte als wollte er sagen: So, da bin ich. Womit kann ich dir dienen? Vor Schreck ließ Sebastian den Katalog fallen, doch schnell hob ihn der MBM auf und übergab ihn wieder Sebastian. Dabei streichelte er ganz sanft über Sebastians Hand und setzte sich schließlich dort mit einem breiten Grinsen nieder.

Allmählich fand Sebastian seine Fassung wieder. Er fasste Zutrauen zu dem kleinen Wesen und streichelte ihm mit seiner freien Hand über den kahlen Kopf. "Toll, dass du da bist! Ich hoffe, du gehst nicht gleich wieder. Komm, lass uns zusammen spielen!" Der MBM nickte zustimmend, sprang auf den Boden und rannte gleich in Sebastians Spiele-Ecke.

Mühsam ließ sich Sebastian aus seinem Rollstuhl zu dem kleinen Kerl auf den Boden gleiten. Der war schon in dem Spielzeughaufen verschwunden und rumorte Minuten lang in ihm herum. Es dauerte nicht lange, da hatte der MBM alle Matchboxautos zusammen geschoben und vor Sebastians staunenden Augen aufgestellt. Mit seinen flinken Händen überprüfte er rasch alle Fahrzeuge auf ihre Fahrtüchtigkeit und reparierte sie, sofern dies nötig erschien. Bewundernd schaute ihm Sebastian zu. Auch die Autos, die Sebastian schon wegschmeißen wollte, standen in der Reihe und warteten darauf, wieder angeschoben zu werden.

"Du bist ein echter Matchbox-Man!", rief Sebastian dem kleinen Kerl zu, der gerade dabei war, die Motorhaube eines Mini-Ferraris zu schließen. "Weißt du was?", fuhr Sebastian fort, "den schenke ich dir, weil du so fleißig warst. Mit dem bist du noch schneller als du eh schon bist!" Dankbar ergriff der Kraft-Zwerg mit beiden Händen Sebastians rechten Zeigefinger und schüttelte ihn.

Sie spielten noch eine Zeit lang in Sebastians Kinderzimmer, bis schließlich der MBM wieder in dem Katalog verschwand, weil er die Schritte von Sebastians Mutter im Vorzimmer gehört hatte. "Scheinbar will er nicht erkannt werden", dachte sich Sebastian und sah im traurig nach. "Komm morgen wieder, Matchbox-Man! Es war schön mit dir!" rief er ihm sehnsüchtig nach. Doch der hatte den Katalog schon wieder zugeklappt

"Mit wem sprichst du, mein Sohn", fragte die Mutter neugierig, als sie Sebastians Zimmer betrat. "Ach, nur mit mir selber. Das tue ich immer, wenn niemand mit mir spricht", meinte Sebastian etwas scheinheilig.

3. Die Rückkehr des MBM

Tage vergingen, ohne dass der MBM sich wieder blicken ließ. Sebastian war schon ganz verzweifelt, weil er den kleinen Kerl schon sehr vermisste. Der Katalog lag unter seinem Kopfkissen, damit er vorm Einschlafen noch hinein schauen konnte. Doch nichts bewegte sich. Da erinnerte er sich, wie er den MBM damals angeschaut hatte, bevor dieser aus dem Katalog geschlüpft war. Er schlug die Seite auf und fing an, den MBM mit einem langen und sehnsuchtsvollen Blick anzustarren. Und siehe da, der Supermann fing an sich zu räkeln und zu strecken, bis er schließlich wieder auf Sebastians Hand saß und ihn fragend anschaute.

"Kommst du mit in die Schule?", wollte Sebastian gleich wissen. Der kleine Mann nickte freudig, denn nun kam Arbeit auf ihn zu, die allemal besser war als die Langeweile unter den Matchbox-Autos im Katalog. Flink sprang er auf den Boden und schob Sebastian mühelos den Rollstuhl zu, sodass dieser leicht hinein gleiten konnte. "Danke", murmelte Sebastian und rollte sich anschließend ins Badezimmer. Dort war schon wie von Zauberhand Wasser in seinem Zahnbecher und Zahnpasta auf der Zahnbürste. "Na, die in der Schule werden Augen machen, wenn ich dich mitbringe", sagte Sebastian zum MBM, der neben ihm auf der Zahnpastatube saß und ihm beim Zähneputzen zuschaute.

Beim Frühstück war Sebastian gespannt, ob der MBM wieder vor seiner Mutter fliehen würde. Doch zu seiner Überraschung blieb dieser auf dem Rand seiner Cornflakes-Schüssel sitzen, nahm sich eine Flocke und tauchte sie in die Milch ein. Anschließend verspeiste er sie genüsslich vor den Augen seiner Mutter. Doch die tat so, als gäbe es den MBM gar nicht. "Donnerwetter!", dachte Sebastian bei sich, "dann bin ich wohl der einzige, der den Däumling sehen kann. Da habe ich ja einen richtigen Pumuckel! Na, das kann ja heiter werden, wenn meiner auch solche Streiche spielt!"

4. Der 1. Tag in der Schule

Sebastian war gespannt, wie der 1. Tag mit dem MBM in der Schule sein würde. Nur, wie konnte er seinen Mitschülerinnen und Mitschülern glaubhaft machen, dass es diesen kleinen Kraftkerl wirklich gab? Da hatte er eine Idee.

In der 2. Stunde hatte die Klasse 3a Deutsch bei Frau Matischak, ihrer Klassenlehrerin. Die war ja so ganz nett, nur hatte sie die dumme Eigenschaft, regelmäßig viel Hausaufgaben aufzugeben. Die schrieb sie immer kurz vor Ende der Schulstunde noch schnell an die Tafel. Oft saßen die Kinder noch bis in die Pause hinein, um die Aufgaben abzuschreiben. Wenn es in der letzten Stunde war, konnte es auch schon einmal vorkommen, dass manche auswärtigen Kinder dadurch den Schulbus verpassten. Ihre Eltern hatten sich darüber schon oft beschwert, doch geändert hatte sich dadurch nicht viel.

Wieder waren es noch 3 Minuten bis zum Stundenende. Alle blickten schon gespannt auf den Zeiger der großen Wanduhr über der Tafel, denn nach dem Gong durften nach der Schulordnung keine Hausaufgaben mehr gegeben werden. Alle Schülerinnen und Schüler begannen schon ihre Aufgabenheftchen zu öffnen, denn sie wussten, gleich würde die Matischak aufspringen und noch hastig die Aufgaben an die Tafel kritzeln. Doch plötzlich sprang der Minutenzeiger auf Halb und der Pausengong ertönte. Frau Matischak schnellte von ihrem Sitz hoch und wollte noch rasch zur Kreide greifen. Doch die lag nicht mehr da, wo sie eben noch gelegen hatte. Sie war auf den Boden gerollt und in lauter kleine Stücke zerbrochen. "Hurra!", schrieen die Kinder und klatschten vor Freude in die Hände, während Frau Matischak zornesrot aus dem Klassenraum rannte und den Kindern einen wütenden Blick zuwarf.

Der einzige, der nicht mitklatschte, sondern breit grinsend da saß, war Sebastian. Er wusste nämlich, wer hinter diesem Streich steckte. "Was ist?", wollten die Kinder von ihm wissen, "ja, freust du dich denn gar nicht?! Keine Hausaufgaben! Mensch, toll!" - "Das war mein Freund, der Matchbox-Man!" - "Dein was?", schreckten die Kinder zurück, "dein Matchbox-Man?! Du spinnst doch!" - "Mein Matchbox-Man!", sagte Sebastian trotzig. "Kommt mal mit auf den Pausenhof. Da werdet ihr weitere Wunder erleben!"

Wie immer war schon die 3b dort auf dem kleinen Fußballfeld versammelt und wartete ungeduldig auf die 3a, weil heute der Schulsieger ermittelt werden sollte. Die Fußballer der 3a fühlten sich allerdings nur als Außenseiter, weil ausgerechnet heute ihr Tormann fehlte und sie an einen Ersatzmann nicht gedacht hatten. Da drängte sich Sebastian nach vorne: "Lasst mich doch ins Tor! Ich mach' das schon", sagte er geheimnisvoll und öffnete dabei seine Hand so, als hätte er eine Streichholzschachtel zwischen seinen Fingern. "Du bist doch viel zu unbeweglich in deinem Rollstuhl!", meinten die einen. "Lasst ihn doch! So kann er uns doch beweisen, ob es diesen Matchbox-Man wirklich gibt!", meinten die anderen. Alle waren schließlich mit Sebastian als Tormann einverstanden und los ging’s!

Der Kampf wogte hin und her. Kein Tor fiel. Sebastian hielt alle Bälle, die auf sein Tor zukamen, sogar die unhaltbaren. Er war ja auch nicht allein! Kurz vor dem Pausenende musste die Entscheidung fallen. Elfmeterschießen! Als der letzte Spieler der 3b den Ball geschossen hatte, trat der letzte Spieler der 3a vor. Wenn er den Ball jetzt im Tor versenkte, war das Spiel entschieden. Er nahm Anlauf, doch er trat in den Rasen, sodass der Ball nur langsam auf den gegnerischen Tormann zurollte. Der stand gelangweilt am Torpfosten gelehnt, weil den Ball auch seine Oma halten würde. Doch was war das?! Statt weiter auf den Torwart zuzurollen, machte der Ball plötzlich eine Drehung in Richtung der anderen Torecke. Verzweifelt hechtete der Tormann dem Ball hinterher, aber er erwischte ihn erst kurz hinter der Torlinie. "Tor! Tor! Tor!", riefen alle aus der 3a und lagen sich in den Armen. Diesmal streckte auch Sebastian seine Arme in die Höhe und jubelte mit. Jetzt waren er und der MBM die Helden des Tages und jeder hatte mit ansehen können, dass es den MBM wirklich gab. Denn ohne den kleinen Kraftzwerg wäre der Ball nie und nimmer rein gegangen! Doch das wusste nur die 3a!

Noch nie hatte Sebastian so viele Mitschüler, die ihn auf dem Heimweg begleiteten. Jeder wollte wissen, wie der MBM denn aussah und warum er ausgerechnet bei Sebastian aufgetaucht wäre. Es herrschte um Sebastians Rollstuhl ein furchtbares Gedränge, denn jeder wollte ihn schieben, um vielleicht noch mehr zu erfahren. Als sie vor Sebastians Wohnungstür ankamen, wollten viele noch hinein kommen, um den Katalog zu sehen, aus dem der MBM geschlüpft war. Doch Sebastians Mutter wehrte ab: "Geht erst mal heim und kommt nach dem Mittagessen wieder!" Murrend zog die Meute ab und verschwand hinter der nächsten Straßenecke.

"Kannst du mir bitte erklären, was das soll?", wollte Sebastians Mutter beim Mittagessen wissen. "Sonst kommst du immer ohne Begleitung nach Hause und heute steht fast die halbe Klasse vor der Tür!" - "Weiß auch nicht genau", murmelte Sebastians, "vielleicht, weil ich beim Fußball als Tormann mitgespielt habe und gar nicht schlecht war." - "Du und Fußball?!", fragte Sebastians Mutter ungläubig. "Ja", ergänzte Sebastian und nahm sich noch ein Kartoffel, "alle wollten mich, weil ich mit dem Rollstuhl das Tor fast zustellen kann!" Die Mutter schüttelte den Kopf: "Na, dann werden wir uns gleich nach dem Essen das teure Gerät mal näher anschauen!"

Als sie nach dem Mittagessen den Rollstuhl überprüften, staunten sie nicht schlecht: Er war sauber geputzt und stand glänzend in Sebastians Reichweite. "Wie ist denn das möglich?", rief seine Mutter erstaunt. "Vielleicht haben meine Mitschüler auf dem Heimweg mich so bedrängt, dass sie den Rollstuhl blank gewetzt haben", meinte er verschmitzt. Er wusste ja, wer dahinter steckte, nur seine Mutter nicht. "Die kann warten", dachte Sebastian bei sich und rollte langsam in sein Zimmer, um sich von den Anstrengungen des Vormittages zu erholen.

5. Auf dem Minigolfplatz

Diesmal waren die Hausaufgaben schnell erledigt, weil ja in Deutsch nichts auf war. Hinter dem Vorhang seines Zimmers hatte Sebastian schon heimlich auf seine Mitschüler gewartet. Da kamen sie auch schon um die Ecke: Florian, der Rotschopf, Benni, der Nasenbohrer, Roland mit seinen Rollerskates und Maxi in seinem Skateboard. Wenig später bogen auch noch Katrin und Martin um die Ecke, wie immer Händchen haltend, weil sie frisch verliebt waren.

"Wir wollen zum Minigolfplatz", sagte Roland zu Sebastians Mutter an der Türe. "Kann Sebastian mitkommen?" - "Gerne, aber sind denn dort Rollstuhlfahrer zugelassen?", wollte die Mutter wissen. "Das passt schon", beschwichtigte Katharina die etwas ängstliche Frau, "der Platzbesitzer ist doch froh, wenn jemand zu ihm kommt!" - "Wenn ihr meint", flüsterte Sebastians Mutter etwas ungläubig. "Platz da!", rief Ronald hinter ihr, "jetzt geht die Post ab!" Und schon war er mit Sebastian draußen und schob ihn vor sich her. "Nicht zu schnell!", rief die Mutter hinterher, doch die Rasselbande war schon außer Hörweite.

Jeder bekam ein Schläger vom Platzbesitzer ausgehändigt, auch Sebastian. Das freute das Blassgesicht besonders, denn alleine wäre ihm das nie passiert. Alleine hätte er sich gar nicht erst auf den Platz getraut. So als wollte er sich dankbar erweisen, spielte Sebastian wie ein Profi. Obwohl er manchmal den Ball kaum traf, so rollte dieser, wie von fremder Hand geführt, durch die Hindernisse direkt ins Loch. Unglaublich! Wenn er so weiter machte, war der Platzrekord in Gefahr. Beim letzten Platz zitterte Sebastian vor Aufregung. "Los, Basti, hau drauf. Du schaffst das schon. Denk’ dran, wenn du den reinmachst, holst du dir den Platzrekord und hast das ganze Jahr freien Entritt!", schrieen die Kinder um ihn herum, die schon längst ihre eigenen Schläger weg geworfen hatten.

Sebastian spannte noch einmal seine schwachen Muskeln, umspannte fest den Schlägergriff, blickte noch mal auf das Loch, das für ihn so unerreichbar schien, und schlug zu. Doch sein Schlag verfehlte den Ball. Auch der zweite Schlag ging daneben. Jetzt musste der dritte klappen, denn sonst war das Spiel für ihn aus. "Matchbox-Man hilf!", kam es kaum hörbar über Sebastians zitternde Lippen. Und der kleine Kerl half. Und wie er half! Der Ball schoss über die Bahn und wieder zurück, sprang über die Hindernisse und drehte mehrmals Kreise. Schließlich blieb er schwebend über dem letzten Loch stehen. Alle hielten den Atem an. Da senkte sich der Ball langsam nieder und verschwand mit einem leichten "Plopp!" im letzten Loch.

"Stark! Saustark, Basti", sagte Katharina nach einer Weile, als sie als erste die Sprache wieder gefunden hatte und Sebastian anerkennend auf die Schulter klopfte. "Alles Betrug! Schiebung!", brüllte der Platzbesitzer, der Sebastians Kunstschuss mit angesehen hatte. Dabei geriet er so in Wut, dass er an Sebastians Rollstuhl solange rüttelte, bis dieser mit einem Schrei auf den Boden fiel und dort liegen blieb. "Das tut mit Leid! Das habe ich nicht gewollt! Wie kann ich das nur wieder gut machen?", stotterte der Platzbesitzer. "Ist doch klar, Mann!" sagte Max cool, "geben Sie jedem von uns eine Jahreskarte und wir melden Sie nicht bei der Polizei!" - "Das ist Erpressung!", fluchte der Mann, doch aus Angst vor der Polizei tat er das, was Maxi gefordert hatte und die Truppe verließ mit Sebastian in ihrer Mitte laut grölend den Minigolfplatz in Richtung Stadt.

6. Sebastian wird Bandenmitglied

Sebastian wusste, dass sich diejenigen, die mit ihm auf dem Minigolfplatz waren, auch zu einer Bande zusammengeschlossen hatten. Das war eine Gruppe, die fest zusammen hielt und den Erwachsenen manchen Streich spielte. Sebastian wäre auch gerne in der Bande, aber als Rollstuhlfahrer?!

Der Treffpunkt der Bande war eine Baumburg im Wald, die so versteckt war, dass selbst der Förster sie nicht finden konnte. Dorthin hatten sich die Bandenmitglieder am Nachmittag des folgenden Tages verzogen, um den nächsten Streich auszuhecken. Doch daraus wurde diesmal nichts. Sie standen noch zu sehr unter dem Eindruck der Erlebnisse des vergangenen Tages und quatschten nur noch über Sebastian und den MBM. Katharina meinte schließlich: "Wie wäre es, wenn wir den Basti in die Bande aufnehmen würden? Der ist zwar an seinen Rollstuhl gefesselt, aber mit seinem unsichtbaren Supermann kann er wahre Wunderdinge vollbringen!" - "Du spinnst doch! Wenn wir was ausgefressen haben, dann ist der doch nicht schnell genug, wenn wir abhauen!", hielt Maxi dagegen. Benni, der wieder mal in der Nase bohrte, unterstützte ihn: "Der kann doch mit seinem Rollstuhl gar nicht auf die Baumburg hoch!" Martin und Katrin nickten zustimmend. Katharina ließ nicht locker: "Wir könnten es doch wenigstens einmal mit ihm versuchen!" - "OK", meinten alle schließlich, "ein Versuch ist es wert!" So verabredeten sie sich für morgen Nachmittag erneut.

Sebastian wollte erst gar nicht seinen Ohren trauen, als ihn Martin und Katrin am nächsten Tag in der 1. Pause ansprachen und ihn in ihr Versteck einluden. Sein Herz klopfte richtig, als er das hörte. Er im Versteck der Bande! Natürlich stimmte er zu, obwohl er noch nicht wusste, wie er das seinen Eltern erklären sollte. Denn die waren immer sehr ängstlich, wenn es um ihn ging. Ihm würde schon was einfallen, dachte er sich und sehnte sich schon den Nachmittag herbei.

Nach den Hausaufgaben wollte Sebastian los. "Ich fahr’ mal rüber zu Katharina und Maxi. Die haben Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben!", rief er seiner Mutter zu. "Ich kann dich doch schnell dahin schieben", sagte Sebastians Mutter mit ängstlichem Blick. "Lass nur!", wehrte Sebastian ab, "das pack’ ich schon alleine!" - "Wenn du meinst. Aber pass gut über die Straße auf!", rief ihm sein Mutter noch nach. Doch der stand schon an der Ampel und wartete auf Grün.

Der Weg in den Wald war sehr beschwerlich. Katrin und Martin hatten beim Schieben große Mühe, Sebastian auf dem holperigen Weg nicht umzukippen. Dann hatten sie es endlich geschafft. "Wo bleibt ihr denn?!", maulten schon einige, als sie keuchend unter dem Baum standen. "Und jetzt? Wie kriegen wir denn den Basti und seinen Rollstuhl jetzt hier hoch?" wollte Florian wissen. Keiner wusste Rat. Da schaute Sebastian auf den MBM, der wieder mal auf seiner Hand Platz genommen und aufmerksam zugehört hatte. Er zeigte auf einen jungen Baum direkt neben ihrer Baumburg. Dann machte er eine tiefe Verbeugung und richtete sich blitzschnell wieder auf. Sebastian verstand, was der MBM ihm sagen wollte. "Los! Den Baum da können wir doch mit vereinten Kräften bis zum Boden biegen und mich mit dem Rollstuhl daran festbinden. Wenn wir ihn dann wieder los lassen, schwingt der Baum wieder nach oben und nimmt mich und den Rollstuhl mit." - "Tolle Idee!", meinten alle und fingen an, nach einem geeigneten Seil zu suchen.

Roland war der schwerste. Er kletterte den jungen Baum hinauf bis in die Spitze. Dann fing er an zu schaukeln, bis sich die Baumspitze immer mehr zu Seite neigte. Schließlich hielt er sich nur noch mit den Armen fest und ließ die Beine baumeln. Sein Gewicht zwang den Baum langsam zu Boden, bis er von den anderen fest gehalten werden konnte. Es dauerte seine Zeit, ehe sie Sebastian und den Rollstuhl oben im Baum fest gebunden hatten. Dann fing Sebastian an zu zählen. Bei 3 ließen alle los und der Baum bewegte sich wieder nach oben, erst schnell und dann immer langsamer. Wie durch ein Wunder blieb er in Höhe der Baumburg stehen, sodass die Kinder keine Mühe hatten, Sebastian auf seinem Rollstuhl in ihre Baumburg zu ziehen. Sie banden den Strick wieder los und befestigten ihn außerhalb an einem Ast, damit sie Sebastian später wieder hinaus bugsieren konnten.

Sie waren alle stolz über ihre Leistung. Sie quatschten noch ein ganze Weile, vor allem über den MBM, der weiterhin unsichtbar blieb und nun auch zur Bande gehörte wie Sebastian, der Rollstuhlfahrer.

7. Die Bande

Zu einer richtigen Bande gehört nicht nur ein Versteck, sondern auch ein passender Name und ein auffälliges Abzeichen für jeden. Das wussten alle Mitglieder. Sie hatten schon einmal darüber nachgedacht, doch etwas Passendes war ihnen bislang nicht eingefallen.

Wieder einmal hockten sie zusammen und beratschlagten über dieses Thema. Maxi hatte als erster eine Idee: "Wie wär’s mit Matchbox-Bande?!", fragte er prüfend in die Runde. Und ein Zeichen hätte ich auch schon", sagte er und malte ein großes M und ein B mit seinem rechten Zeigefinger in den Staub auf dem Boden der Hütte.

"
Gar nicht schlecht, Maxi", meinte Roland und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. "Finde ich doof", maulte Katharina, weil sie sich ärgerte, dass sie nicht diese Idee gehabt hatte. Roland fuhr fort: "Jetzt brauchen wir nur noch einen Anführer. Ich würde mir diese schon Rolle zutrauen, weil ich der Stärkste bin." Dabei schaute er sich herausfordernd um.

Zunächst wagte keiner Roland zu widersprechen, denn der war nun wirklich am kräftigsten. Doch dann meldete sich Benni mit seinem Popelfinger zu Wort: "Ich würde Basti vorschlagen. Der ist zwar schwächer als du, doch der hat da oben mehr drauf", sagte er und zeigte dabei auf seinen Kopf. "OK", sagte Roland etwas beleidigt. Dann wollen wir abstimmen! Wer ist für Basti?" Erst meldete sich Katharina, dann auch Maxi und schließlich waren alle Finger oben. „Das dachte ich mir“, grollte Roland und steckte seine Hände bis zu den Ellbogen in die Hosentaschen. "Immer diese Schlauköppe!", ergänzte er und war beleidigt.

Erst wusste Sebastian gar nicht, ob er die Wahl annehmen sollte. Doch dann sah er die aufmunternden Blicke seiner Bandenmitglieder und nickte zustimmend. "Ich danke euch allen. Ich hoffe, wir werden euch nicht enttäuschen", sprach er gerührt und streichelte dabei sanft über den kahlen Kopf des MBM. Doch der schaute nachdenklich in die Runde. Sebastian wurde nicht ganz schlau aus ihm, doch das kümmerte ihn jetzt nicht groß, weil er eben gerade zum Anführer der Matchbox-Bande gewählt worden war.

8. Die Beichte

"Du meine Güte, Sebastian! Wie siehst du denn aus?!", rief die Mutter entsetzt, als Sebastian wieder zur Türe rein rollte. "Wo hast du denn diese grünen Streifen her und den Schmutz an den Händen? Am besten stecke ich dich gleich mit in die Waschmaschine!", drohte sie. Mühsam hob sie ihren Sohn hoch und half ihm beim Ausziehen. Doch dann bereitete sie ihm das Bad vor, während sie die Dreckwäsche in die Waschmaschine steckte.

Als Sebastian in der Wanne saß und ihm die Mutter die Hände mit einer Bürste bearbeitete, erzählte er ihr bereitwillig, was passiert war. Denn irgendwann einmal musste die Wahrheit ja mal ans Licht! Die Mutter unterbrach ihn nicht, aber ab und zu schüttelte sie ihren Kopf, so als ob sie ihm nicht immer glauben würde. Erst als er erzählte, dass er nun auch Bandenmitglied sei und auch noch zum Anführer gewählt worden wäre, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und stammelte: "Erzähl das bloß nicht Papi! Der flippt sonst aus und lässt dich keinen Tag mehr aus dem Haus!"

Alles hatte Sebastian seiner Mutter gebeichtet, nur nicht die Geschichte vom MBM. Die würde sie ihm sowieso nicht glauben, weil sie nicht an etwas glauben konnte, was sie nicht gesehen hatte. Sebastians Vater, so meinte sie, müsste allerdings auch eingeweiht werden. Sie wollte das schon machen, versprach sie Sebastian.

9. Der gute Rat

Nicht weit von der Baumburg entfernt befand sich ein kleiner See im Wald, an dem gelegentlich Angler fischten oder böse Menschen einfach ihren Unrat ablagerten. Die Kinder störte das nicht, denn so fanden sie immer etwas Brauchbares für ihre Baumburg.

Diesmal aber suchte die Bande etwas Bestimmtes, nämlich eine Rolle, mit deren Hilfe sie ihren Anführer in die Baumburg hochhieven konnten. Der Baum, der bisher als Kran gedient hatte, schaffte es nämlich kaum noch bis in die Höhe des Verstecks, sodass die Kinder große Mühe hatten, Sebastian hoch zu holen. Stundenlang suchten sie das Ufer ab, aber eine Rolle fand sich nicht. Jetzt war guter Rat teuer.

Sie zogen sich wieder auf ihre Baumburg zurück und hielten Rat. Diesmal setzten sie sich unter den Baum, weil der Baumkran Sebastians Last nicht zweimal am Tag geschafft hätte. "Woher nehmen und nicht stehlen?", fragte Katrin in die Runde. "Dann müssen wir halt eine Rolle im Baumarkt kaufen", warf schließlich Martin ein. "Kaufen?! Von was denn? Unsere Sparschweine sind alle geplündert seit unsrem letzten Besuch beim Burger-King", gab Florian zu bedenken. "Dann müssen wir halt Geld verdienen!", waren Katharinas Gedanken. "Wie wäre es mit einem Flohmarkt nächsten Samstag?!", ergänzte sie und schaute fragend in die Runde. "Ich hätte schon genug alten Plunder auf unserem Dachboden. Der ist für den nächsten Sperrmüll bestimmt", sagte Benni, diesmal ohne Finger in der Nase. "Meiner Oma ihre alte Brille und einen alten Klodeckel mit Blümchenmuster könnte ich auch verkaufen", fiel Roland ein. "Abgemacht!" sagte Basti und alle machten sich auf den Weg nach Hause, um dort nach etwas Brauchbarem zu suchen, denn heute war schon Donnerstag.

10. Der Flaschenzug

Was die Matchbox-Bande am Samstag alles anschleppte, lässt sich kaum beschreiben. Natürlich war das meiste alter Plunder und im Grunde genommen keinen Cent mehr wert. Aber die Kinder hatten alles auf Hochglanz poliert und notdürftig repariert. Und tatsächlich: Immer wieder blieben Leute stehen, die sich für das eine oder andere Stück interessierten. So wechselten viele Stücke nach und nach ihre Besitzer: Bennis Comic-Sammlung, Florians Holzeisenbahn, Rolands Kettcar, Katharinas Puppenstube, Maxis Bobby-Car, Katrins erstes Schminktäschchen und Martins alter Baukasten. Als sie den Platz gegen Mittag wieder räumen mussten, zählten sie ihre Einnahmen zusammen. Sie wollten ihren Ohren nicht glauben, als Sebastian die Tageseinnahme verkündete: 63 Euro u. 17 Cent. Donnerwetter! Soviel Geld hatte noch keiner der Bande auf einem Haufen gesehen.

Montag Nachmittag waren sie alle wieder beisammen, um im Baumarkt eine Aufzugsrolle zu kaufen. "Ich würde euch zu einem Flaschenzug raten", meinte ein Verkäufer, den sie um Hilfe gebeten hatten. "Den gibt’s schon ab 65,- Euro", fuhr der Verkäufer fort und zeigte auf ein solches Gerät an der Wand. Sie hätten ihn schon gerne gekauft, aber bis 65,- Euro fehlten ja noch 1 Euro u. 83 Cent. Da griff Sebastian in seine Hosentasche und holte noch 2 Euros raus, die er sicherheitshalber immer bei sich trug. "Das Gerät ist doch eh für mich da. Also werde ich den Rest drauf legen und diese Woche etwa sparsamer mit meinem Taschengeld umgehen."

Wie sich herausstellte, war der Flaschenzug ganz schön schwer. Vor allem die lange Kette hatte ihr Gewicht. Sie legten das Paket auf Sebastians Ablagekorb im Rollstuhl und wechselten sich beim Schieben ab. Trotzdem kamen sie schweißgebadet bei ihrem Versteck an. Der Flaschenzug kam zur rechten Zeit, denn der Baum hatte sich von seiner letzten Arbeit noch nicht wieder erholt. Den Flaschenzug oberhalb der Burg zu befestigen war nicht schwer. Nur vor dem ersten Hochziehen hatten sie noch etwas Bammel.

Sie schnallten Sebastian am Rollstuhl fest und befestigten den Haken des Flaschenzuges in der Mitte des Rollstuhles. Nun konnte der Aufzug beginnen! Alle griffen nach der Kette, um beim Hochziehen zu helfen. Doch so schnell sie auch zogen, der Rollstuhl rückte immer nur ein kurzes Stück nach oben. Das läge an der Übersetzung, erklärte ihnen Sebastian, als er langsam nach oben schwebte. Sie verstanden zwar alle nur Bahnhof, merkten aber bald, dass sie nicht viel Kraft brauchten, um Sebastian schließlich in der richtigen Höhe zu haben. "Ich danke euch allen, dass ihr mir so geholfen habt", sagte Sebastian glücklich, als sie sich in der engen Hütte wieder versammelt hatten. „Ich danke auch dir“, sagte Sebastian in Richtung der Hand, die dem MBM immer als Bank gedient hatte. Doch die war leer. Der MBM war verschwunden!

11. Das Ende des MBM 

Verzweifelt durchsuchte Sebastian alle Winkel in seinem Zimmer. Doch der MBX blieb verschwunden. Auch der Katalog war weg. "Den habe ich heute Morgen in die Papiertonne geschmissen", erklärte ihm sein Mutter. "Obenauf lag ein Briefchen an dich ohne Absender. Ich habe es dir auf dein Kissen gelegt", fuhr sie teilnahmslos fort. "Den alten Schuhkarton habe ich auch gleich entsorgt. Da war eh nur alter Plunder drin!", sagte sie abschließend, ohne zu bemerken, wie Sebastian die Tränen in die Augen stiegen. Traurig rollte er zurück in sein Zimmer, um nach dem Briefchen zu suchen. Da lag es auch, das kleine Couvert. Hastig öffnete Sebastian den Umschlag und las, was drin stand:

Lieber Sebastian,
die Zeit mit dir war schön., aber sie ist jetzt vorbei. Ich habe dir geholfen, Freunde zu finden, die dich anerkennen und auch mögen. Meine Aufgabe ist erfüllt. Lebe wohl und kümmere dich um deine Bande!
Dein Matchbox-Man

Sebastian wischte sich ärgerlich die Träne weg, die auf der rechten Wange runter zu kullern drohte. "OK, Matchbox-Man, wenn du es so willst. Ich finde es schade, weil du mir sehr geholfen hast und ich dich sehr gerne gehabt habe. Du wirst mir fehlen! Danke für alles", flüsterte Sebastian leise.

Noch bevor seine Mutter das Licht auslöschte, fiel Sebastians Blick auf die Reihe seiner Matchbox-Autos. Alle standen noch in Reih’ und Glied. Nur eines fehlte: der rote Ferrari. Also hatte es ihn doch gegeben, den Matchbox-Man! Doch nur er, Sebastian, hatte ihn sehen können ...

- ENDE -

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