Mittwoch, 9. November 2011

Das Haselblatt

Es war einmal ein Haselblatt. Das war schon gelb und hing mit seinem
letzten Faden ganz unten im Geäst des Haselnussstrauches. Der November-
sturm hatte im Blattwerk des Strauches schon arg gewütet und die meisten
welken Blätter mit sich gerissen. Viel Widerstand hatten sie ihm nicht
mehr leisten können, denn die kurzen Tage und die kalten Nächte hatten
schon zu stark an ihnen gezehrt.

Das Blatt sah sich verängstigt um. Vielleicht gab es ja noch das
Nachbarblatt einen Ast unter ihm, mit dem es sich die letzten Tage so
gut verstanden hatte. Gegenseitig hatten sie sich getröstet, wenn wieder
mal ein Blatt aus ihrer Mitte gerissen wurde. Meist war es der böige
Wind, der sie fort riss und an entfernter Stelle liegen ließ. Oft war es
auch ein Vogel, der das kahle Geäst des Strauches erschütterte, wenn er
einen Rastplatz suchte. Das Eichhörnchen kam schon lange nicht mehr,
denn die restlichen Haselnüsse waren alle schon zu Boden gefallen.

Ein Seufzer entfuhr dem schmalen Mund des Haselblattes, als es den Platz
unter sich leer fand. "Jetzt bin ich dran! Doch so leicht werde ich
nicht aufgeben", sprach sich das Blatt Mut zu und sammelte seine letzte
Kraft. Der kleine Ast, auf dem es saß, schien diesen Willen zu spüren
und verdoppelte seine Anstrengungen, dem letzten Blatt den
entsprechenden Halt zu geben. Trotzig blickten beide in Richtung der
dunklen Wolke, die drohend auf sie zu kam, um sich über ihnen zu entladen.

Der folgende eisige Wind konnte ihnen tatsächlich nicht viel anhaben.
Mit vereinten Kräften stemmten sich Blatt und Ast dem wilden Gesellen
entgegen und jubelten, wenn sie wieder einmal einen Ansturm überlebt
hatten. Doch dann legte sich der Wind und die Wolke öffnete ihre
Schleusen. "Wenn es nur wieder Regentropfen sind, die mir da drohen,
dann werde ich auch diesen Angriff überstehen", frohlockte das
Haselblatt schon.

Der Niederschlag kam auch, aber diesmal nicht als gewöhnlicher Regen,
sondern als Schnee, der leise vom Himmel rieselte und ganz sachte alles
mit einer weißen Decke zu überziehen begann. Das Blatt konnte sich
drehen und wenden, wie es wollte, doch die Flocken erfassten es auch und
gaben ihm einen Überzug. "Toll solch ein wärmendes Mäntelchen!",
schwärmte das Blatt schließlich und vergaß all seine Sorgen.

Der kleine Ast unter dem Blatt aber hatte das Unheil schon kommen sehen.
Es war wie im November des letzten Jahres. Was der Wind und die Kälte
nicht geschafft hatten, besorgte der erste Schnee. Er wähnte das letzte
Blattwerk in Sicherheit und riss es mit seinem Gewicht zu Boden, wo das
Leben dann zu Ende ging. So geschah es auch mit diesem Blatt. Es machte
leise Knacks! und das letzte Blatt taumelte mitsamt der weißen Fracht zu
Boden.

Die Landung war zwar weich, aber nicht so sanft, dass das Haselblatt
weiter geschlummert hätte bis an sein sicheres Ende. Es schlug die
matten Äuglein auf und die begannen auch gleich zu strahlen, als es
direkt neben sich das Nachbarblatt wieder erkannte, das solange neben
ihm ausgehalten hatte. Die beiden Blätter drängten sich sogleich noch
näher zusammen und bildeten einen kleinen Hohlraum unter sich, der sie
nun auch gegen die seitliche Kälte schützte.

Die beiden Blattfreunde waren nun sicher, dass ihnen so noch ein
weiteres Stückchen Leben geschenkt worden war. Der Laubsauger des
Hausmeisters war schon längst verstummt und mit dem Rechen würde er auch
nicht mehr ausrücken um diese Jahreszeit! Bald gewöhnten sich die Augen
der beiden an die Dunkelheit und sie konnten sehen, welches Getier an
ihnen vorbei huschte oder kroch.

Da war die Maus, die zittrig umher schnüffelte auf der Suche nach etwas
Fressbarem. Meist kehrte sie auch heim mit einem vollen Mäulchen, doch
das war sicherlich nicht genug für den Tagesbedarf einer ganzen
Mäusefamilie.

Unzählige Käfer krabbelten vorbei, ebenfalls emsig auf Nahrungssuche
unter dem schützenden Laub. Ob sie alle wieder heim kamen oder Opfer
anderer hungriger Mäuler wurden, konnten die beiden Haselblätter nicht
ausmachen, denn unter ihrer dunklen Kuppe war nicht alles klar zu
erkennen. Jedenfalls ging hier unten auf dem Boden das Leben weiter,
während weiter oben die geschlossene Schneedecke alles Leben zu
ersticken schien.

Immer öfter kam es vor, dass den beiden Haselblättern die Augen schwer
wurden und sie viel Zeit in einem Dämmerschlaf verbrachten. So sparten
sie auch noch ein wenig Energie, die sich immer mehr ihrem Ende
zuneigte. Ab und zu, wenn sie gerade beide mal wieder gleichzeitig aus
den Blattaugen blinzelten, betasteten sie mit ihren blättrigen Händchen
vorsichtig ihre Blattoberfläche, um ihre Festigkeit zu überprüfen. Dünn
war sie geworden, sehr dünn und an den Rändern zeigten sich immer mehr
Trockenrisse. Sie sprachen sich gegenseitig Mut zu und verabredeten,
noch mindestens bis zum Ende des Winters durchzuhalten, um die ersten
warmen Sonnenstrahlen noch einmal zu erleben.

Zur Weihnachtszeit wurde es dann noch einmal kritisch. Tauwetter hatte
wieder eingesetzt und ließ den Schnee zurück weichen, bis schließlich
nur noch kleine Reste in Bodennischen kauerten. Auch unter dem
Haselnussstrauch kam der Boden wieder zum Vorschein und die Blätter standen
entblößt da. Alle bunten Farbtöne des Herbstlaubs waren gewichen, sodass
die Menschen achtlos an ihnen vorbei eilten. Hin und wieder konnten man
auch ein leise Fluchen hören, weil ein nasses Blatt einen eiligen Schuh
ins Rutschen gebracht und den Träger in Not versetzt hatte.

"Wenn es doch wieder schneien würde!", flehten die Haselblätter leise
und blickten mit matten Augen zum Winterhimmel empor. Dieser schien ihr
Flehen wohl vernommen zu haben, denn schon im Januar kam der Schnee
zurück und mit ihm strenger Frost. Gott sei Dank war diesmal die
Schneedecke etwas dicker als zuvor, sodass der neue Mantel noch besser
gegen die grimmige Kälte schützte.

Immer mehr fühlten die beiden Haselblätter ihre letzten Kräfte
schwinden. Hätten sie sich nicht gegenseitig das Versprechen gegeben,
die Frühlingssonne noch abzuwarten, wären sie schon längst vollends in
sich zusammen gesunken und im Erdreich verschwunden. So aber hatten sie
noch ein Ziel und die leise Hoffnung, dass es die Natur gut mit ihnen
meinte.

Und die Natur enttäuschte sie nicht. Kaum hatte die Sonne Ende Februar
die ersten warmen Strahlen zur Erde geschickt, da regte sich schon unter
dem Laub das neue Leben. Ein leises Lächeln huschte über das fahle
Gesicht der beiden Haselblätter, als sie spürten, wie auch unter ihren
Füßen der Boden sich leicht hob und die ersten Schneeglöckchen ihre
weißen Köpfe aus dem Boden streckten. "Da schau!", raunte das Haselblatt
seinem Nachbarblatt zu. Doch das blieb diesmal stumm. Es war nicht mehr
und sah jetzt der Erde ähnlicher als einem Haselblatt. "So warte doch!",
rief das Haselblatt. Dann schloss es auch die Augen für immer und machte
sich auf den Weg, den alle Blätter gehen, wenn ihre Zeit vorbei ist.

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